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Verbote: Wird der Staat übergriffig?

Corona-Regeln, Rauchverbot, Ernährungsampel und moralisierende Hinweisschilder auf Autobahnen – dies sind nur einige Beispiele an Einschränkungen und Botschaften, die der Staat in der jüngeren Vergangenheit erlassen hat. Der Sozialwissenschaftler Dr. Felix Heidenreich erörterte im jüngsten „weiterDenken ermöglychen“-Vortrag am Mörike-Gymnasium, ob der Staat übergriffig wird.

Wird der Staat übergriffig? Wie man bei uns diese Frage beantwortet, hänge von der eigenen Präferenz ab. Das war die abschließende Antwort des Politikwissenschaftlers Dr. Felix Heidenreich von der Universität Stuttgart am Ende seines Vortrags, den er in der Reihe „weiterDenken ermöglychen“ des Göppinger Mörike-Gymnasiums hielt. Die aktuelle Folgerung seiner Ausführungen zum Unterschied Ost-West und der Schwierigkeit des Westens, mit Putin im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg einen Dialog zu führen, lautete: „Das ist so schwierig, weil für Putin das Recht keinen Eigenwert hat, sondern dort in Loyalität und Ehre gedacht wird.“ 

Heidenreich zerpflückte die gestellte Themenfrage in Einzelfragen und erläuterte den westlichen Demokratie-, Rechts- und Freiheitsbegriff. Und er untersuchte den Unterschied von sozialer Steuerung des Verhaltens. In der vormodernen Gesellschaft habe es den Code der Ehre und den alten römischen Familienbegriff gegeben. Hier wurde mit Leidenschaft, am Beispiel der Fehde sehe man das, regiert und Mut, Ehre und Loyalität seien die zentralen Begriffe.

Die moderne Gesellschaft dagegen definiere sich über Recht und über Interessen, die über Verträge und Normen ausgehandelt werden müssten. Die Normen müssten transparent sein und befolgt werden. Da komme es beispielsweise bei Verkehrsregeln nicht darauf an, ob diese jemand mit Leidenschaft oder mit Mut ausführe, man müsse sie eben befolgen. Die Herausforderung sei, Normen und Werte miteinander auszubalancieren. Man könne etwa bei den Themen Sexismus oder Klimaschutz auch fragen, ob der Staat bislang „untergriffig“ gewesen sei.

Wie der Einzelne einen Freiheits-Eingriff des modernen, demokratischen Rechtsstaats mit seinen individuellen Schutzrechten bewerte, hänge letztlich von den Gefühlen und der Einstellung des Einzelnen ab, so Heidenreich. Wenn Verfassungsgerichte angegriffen würden, hier wurde etwa Ungarn genannt, und die Volkssouveränität über alles gestellt werde, sei Demokratie in Gefahr. Gesetze dürften nicht zur Diktatur der Mehrheiten werden.

Letztlich sei die Frage ein Wettstreit zwischen einer eher republikanischen Position, die mehr Entscheidungen durch den Staat fordere, und einer liberalen Position. Diese setze auf Freiheitsräume und Eigenverantwortung. Nach Felix Heidenreich müsse beides in westlichen Gesellschaften immer wieder ausbalanciert werden, um Demokratie zu er halten. 


Text: Annerose Fischer-Bucher
Bilder: Michael Stark
Veröffentlicht: 06.04.2022

 

Erschienen in der Print-Ausgabe der NWZ am 28.03.2022. Wir bedanken uns recht herzlich bei der NWZ und Frau Annerose Fischer-Bucher für das Bereitstellen des Artikels für unsere Webseite.

Quelle: https://www.swp.de/lokales/goeppingen/wird-unser-staat-uebergriffig_-wie-man-in-einer-demokratie-freiheit-und-recht-sichert-63549817.html

Dr. Felix Heidenreich verwies an diesem Abend auch auf gesellschaftliche Entwicklungsprozesse bei der Diskussion von Verboten: Die Zeiten von Hexenverbrennung und Folter seien zeitgeschichtlich betrachtet noch nicht allzu lange her.