Dr. Norbert Lammert: Demokratie braucht Demokraten
Norbert Lammert hält flammendes Plädoyer für Engagement von Bürgern für ihre Demokratie – Über 150 Zuhörer spenden ehemaligem Bundestagspräsidenten begeistert Beifall.
„Sie allein entscheiden, wie lange dieser wertvolle Ausnahmezustand Demokratie erhalten bleibt, und nicht allein der Verfassungstext“, sagte der ehemalige Bundestagspräsident Professor Dr. Norbert Lammert am Ende seines Vortrags in der Turnhalle des Göppinger Mörike-Gymnasiums. Denn die Demokratie sei am meisten gefährdet, wenn die Menschen anfingen, sie für selbstverständlich zu halten. Begonnen hatte der ehemalige CDU-Politiker und in seinem Amt ehemals zweithöchste Vertreter des Staates mit vermeintlich einfachen Fragen an die vorwiegend jungen Zuhörerinnen und Zuhörer: Braucht Wissenschaft Wissenschaftler? Braucht Medizin Mediziner? Braucht Kunst Künstler?
Lammert beantwortete diese in Analogie zu seinem Vortragsthema, dass Demokratie Demokraten brauche. Die Essenz der Demokratie bestehe darin, dass Bürgerinnen und Bürger die selbstgesetzten Regeln für wichtiger hielten als die Durchsetzung von eigenen Interessen und Zielen. Dahinter stehe die Einsicht der Aufklärung, dass es keine unzweifelbaren Wahrheiten gebe. Daraus folge, dass man sich den notwendigen Streit und Diskurs nur leisten könne, wenn man sich an die Regeln halte. In die Veranstaltung eingeführt hatte zuvor Ralf Engel. Oberbürgermeister Alex Maier hatte den Gast begrüßt, ebenso wie die Schulleiterin Maria Rauhut und Schülerinnen und Schüler des Mögy. Lammert warf einen Blick auf die deutsche Geschichte seit 1841 und auf das Grundgesetz (GG) von 1949 und bezeichnete es als eine der ältesten Verfassungen der Welt. Er beleuchtete die Fragen, was wir unter Demokratie verstehen, was sie schwäche, was sie stärke und welche Bedeutung Verfassungen für die Demokratie haben.
„Der nüchterne Blick auf die Wirklichkeit zeigt, Demokratie ist nicht die Normalität.“
Professor Dr. Norbert Lammert, ehemaliger Bundestagspräsident
Zur Definition nannte er ein System, das durch freie Wahlen in regelmäßigen und verlässlichen Abständen bestimmt, durch wen die Wähler regiert werden wollen. Dazu ein freier und fairer Wettbewerb, eine Mandatsverteilung auf Zeit, die Gewaltenteilung mit unterschiedlichen Zuständigkeiten und mit unabhängigen Gerichten und freier Presse. In einem Vergleich zwischen der Weimarer Verfassung und dem Bonner GG zeigte er dann den entscheidenden Unterschied auf, dass Grundrechte am Anfang des GG stehen und, sie zu schützen, die Pflicht aller staatlichen Gewalt sei. Das bedeute, dass der Einzelne seine Grundrechte gegenüber dem Staat beim Bundesverfassungsgericht einklagen könne, dass Gesetze überprüft werden können und im Einklang mit den Essentials des GG stehen müssen.
Lammert wies auf die vielfachen Gefährdungen von Demokratie hin. Sie sei nicht die Normalität. Unter den 200 Staaten gebe es gerade mal zwei Dutzend mit dieser Staatsform. Selbst in der EU genügten nicht alle Staaten den Standards und in den USA habe man Anlass zur Sorge. Früher sei Demokratie eher durch Kriege bedroht gewesen, heute sei sie von innen bedroht, wenn Menschen Parteien wählten, die die Strukturen der Verfassung aus den Angeln heben wollten. Diese ähnlichen Erfahrungen wie in der Weimarer Republik mache man zurzeit. Autoritäre Systeme wollten kein bürgerschaftliches Engagement. „Sie verbieten, sie limitieren und sie eliminieren.“
In der Diskussion auf die Frage nach einem Parteienverbot der AfD angesprochen, sagte der Referent, dass er kein Freund davon sei, denn die Einstellungen der Menschen blieben ja dieselben. Man wisse, dass die meisten Wähler die AfD nicht wegen ihrer Ziele wählten, sondern aus Protest. Hier hielt er ein flammendes Plädoyer dafür, sich in demokratischen Parteien zu engagieren und auch zur Wahl zu gehen. Wer nicht bereit sei zu wählen und sich zu engagieren, habe auch kein Recht, hinterher alles infrage zu stellen. Eine Demokratie lebe nur durch das Engagement von demokratisch gesinnten und zum Kompromiss fähigen Bürgern. Bezogen auf die Zukunft plädierte er für eine „sensible Zuversicht“, welche die Gefährdungen im Blick habe.
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Zur Person
Professor Dr. Norbert Lammert ist 75 Jahre alt und so alt wie das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Er ist in Bochum geboren und war von 1980 an 37 Jahre CDU-Bundestagsabgeordneter. Von 2005 bis 2017 war er Bundestagspräsident und damit der Inhaber des zweithöchsten Staatsamts.
weiterDenken ermöglychen
Die Reihe „weiterDenken ermöglychen“ ist eine Kooperation des Mörike-Gymnasiums, der VHS, der Evangelischen und Katholischen Erwachsenenbildung und des Weltladens Göppingen. Verantwortet wird die Reihe vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaften des Göppinger Mörike-Gymnasiums mit Ralf Engel, Martin Spaeth, Marius Pfleghar und Michael Stark.
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Erschienen in der Print-Ausgabe der NWZ am 17.04.2024. Wir bedanken uns recht herzlich bei der NWZ und Frau Annerose Fischer-Bucher für das Bereitstellen des Artikels für unsere Webseite.
Text: Annerose Fischer-Bucher (NWZ)
Foto: Marius Pfleghar
Veröffentlicht: 19.04.2024
Berichterstattung im Lokalfernsehen (Filstalwelle):
Inklusive Interviews mit Dr. Lammert, Organisator Ralf Engel und Schülerinnen