Zu den größten, nicht zu den bekanntesten Dichtern gehört Eduard
Mörike, dessen 200. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird. Die
Landschaften seiner Heimat haben das Werk des Schwaben beeinflusst,
fern jeder Folklore. Wer aufmerksam Mörikes Lebenswege bereist,
wird seine Lyrik differenzierter betrachten.
An einem Januarmorgen, kurz vor Sonnenaufgang. Im Rücken liegt das
schlafende Dorf. Bis zur Sonntagsmesse ist noch Zeit. Eine Krähe
macht sich wichtig, hinterlässt hoppelnd eine unbekannte Schrift im
Schnee. Ansonsten reibt nur der harte Wind im Ohr. Dreizehn Grad
unter Null, die Nase läuft davon, die Augen tränen. Im Osten ringt
die Sonne erfolgreich mit der Nacht und offenbart ein rotes Band.
Noch ein paar knirschende Schritte, dann ist er erreicht, der
Mörikefelsen. Der Blick wandert übers Zipfelbachtal nach Hepsisau
und Weilheim ins vulkanische Herz der Alb, wandert über gefrorene
Äcker und weiß schimmernde Dächer. So viel zu sehen, so viel zu
fühlen.
Und dann… obwohl man die Sinne konzentrieren wollte auf die Ankunft
des neuen Tages, hat man den entscheidenden Augenblick fast
verpasst. Hell ist es. Ein Kaffee wäre nun nicht schlecht. Aber in
Ochsenwang, da wartet keiner auf einen ausgekühlten Wanderer. Und
der Gedichtband in der Manteltasche wärmt die Finger auch nicht. An
einem Januarmorgen, kurz nach Sonnenaufgang.
Die Stunde vor Tag gilt als die Stunde des Eduard Mörike. Einige
seiner bekanntesten Gedicht widmete der 1804 in Ludwigsburg
geborene Sohn des Stadt- und Amtsarztes Karl Friedrich Mörike
dieser "flaumenleichten Zeit der dunkeln Früh". Immer wieder ist es
die Zeit des Übergangs und Fließens, die dem lyrischen Ich zum
emphatischen Moment der eigenen Seelenschau gerät. Rätselhafte
Gefühle und Erinnerungen begehren auf gegen den bedrohlichen Lauf
der Zeit - die leise, trotzige Revolte gegen das Unaufhaltsame.
Mörikes Stimmungsbilder, die mehrdeutig über dem sicheren Boden der
Logik schweben gehören zum Schönsten, was die deutsche Lyrik je
hervor gebracht hat. Biedermaier, Spätromantik, schwäbische Schule
- die literaturwissenschaftlichen Zuschreibungen verwirren mehr als
sie helfen, vielleicht weil sie zu sehr auf das Gesagte als auf
Verschwiegenes abheben. "Derweil ich schlafend lag, / Ein Stündlein
wohl vor Tag, / Sang vor dem Fenster auf dem Baum / Ein Schwälblein
mir, ich hörte es kaum, / ein Stündlein wohl vor dem Tag", lautet
die erste Strophe eines berühmten Gedichtes aus dem Jahr 1837, das
den letzten Vers als Titel trägt und auf das erste Hören hin wie
ein banales Volkslied daherkommt. Bald schon aber wird das
"Schwälblein" zu dem das lyrische Ich in Liebe entbrannt ist.
Der scheinbaren Einfachheit eignet allerdings eine eigentümliche
Tiefe: weil bis zum Gedichtschluss nicht klar wird, ob es sich um
einen Traum handelt; und weil gerade die Schwalbe für das Thema der
Eifersucht herhalten muss, ist doch dieser Vogel ansonsten in der
Literatur nicht als Unglücks-, sondern als Liebesbote unterwegs.
Lediglich dem Belesenen kommen Ovids Metamorphosen in den Sinn, wo
Prokne ihre Schwester Philomena nach deren Vergewaltigung durch
Theseus , Proknes Ehemann, rächt und in eine Schwalbe verwandelt
wird. So sind Mörikes Gedichte, zumindest die herausragenden unter
ihnen, leicht und schwierig zugleich, populistisch und elitär,
oberflächlich und tiefgründig.
Bis heute blieb diese Qualität vielen verborgen, die unbewusst dem
Verdikt eines Heinrich Heine folgen, der Mörike wohl in
vormärzlicher Rage 1838 in seinem "Schwabenspiegel" mit den Worten
verhöhnt: "Ein ganz ausgezeichneter Dichter der schwäbischen
Schule, versichert man mir, ist Herr Mörike. Man sagt mir, er
besinge nicht nur Maikäfer, sondern sogar Lerchen und Wachtel, was
gewiss sehr löblich ist."
Dabei bildet die literarisch verdichtete Landschaft in all ihren
Ausprägungen meist nur den äußeren Anlass zu einer Reise ins
Innere, und dennoch ist sie eine notwendige Bedingung für Mörikes
lyrische Höhenflüge. Der ländliche, nicht der städtische Raum steht
im Mittelpunkt, auch in seinen Skizzen und Zeichnungen, die er seit
seiner Jugend anfertigt, auf denen oft Kirchtürme aus kleinen
Ansammlungen von Fachwerkhäusern aufragen. In Ochsenwang auf der
Alb übernimmt er im Winter 1832 die Vikariatsstelle und wohnt im
Gebäude gegenüber der evangelischen Pfarrkirche. Im selben Jahr
erscheint sein einziger Roman, "Maler Nolten", der von der Kritik
zwiespältig aufgenommen wird. Ein zentrales Motiv ist die
Unvereinbarkeit von Broterwerb und künstlerischer Existenz, was im
Grunde auch für Mörike selbst gilt: denn er hasst den ihm
zugewiesenen Beruf des Geistlichen und quält sich gerade so und
leidlich uninspiriert auf die Kanzel.
Wie andere seiner Generation geht auch Mörike den vorgezeichneten
Ausbildungsweg eines Landpfarrers im protestantischen Württemberg:
Klosterschüler in Urach (oder Maulbronn), anschließend Stiftler in
Tübingen. Auch Hölderlin, Schelling, Strauß, Hegel und später Hesse
durften die strengen Weihen dieser Erziehungsanstalten genießen.
Wer kann, der flieht - in kultische Freundschaftsfeste, wirre
Fantastereien, eingebildete Lieben und natürlich in die
allerschönste Literatur. Mörike gehört auf diesen Gebieten zu den
Talentiertesten.
Und dann, als das wahre, schnöde Leben nach dem Studium halt
beginnen muss, befindet sich Mörike schon mitten in der
"theologischen Mausfalle", wie es sein Freund aus Uracher Tagen,
der streitbare Religionswissenschaftler David Friedrich Strauß
treffend formuliert hat. Der junge Geistlich kommt viel, aber nicht
weit herum: die achtjährige Vikariatszeit führt ihn von
Oberboihingen, über Pflummern bei Riedlingen und Plattenhardt auf
den Fildern nach Owen und Ochsenwang bis nach Cleversulzbach, wo
ihm die Investitur zuteil wird. Um die Novelle "Mozart auf der
Reise nach Prag" zu verfassen, bedurfte es keiner wirklichen
Kutschenfahrt ins Böhmische.
Seine ständig wiederkehrenden Depressionen und Erschöpfungszustände
sind aber nicht die Folge dieser vermeintlichen "schwäbischen
Enge", sondern vielmehr eine Reaktion auf die Erfordernisse seiner
Profession. Die lästigen Predigten. Diese unwirschen Menschen.
Manchmal bleibt er einfach morgens im Bett liegen und zieht sich
die Decke über den Kopf. Oder schreibt. Was kaum jemand
interessiert. Man beginnt zu lästern. Für seinen Pfarrkollegen
Hartmann ist er nicht mehr als ein "faul's Luder". Mit 39 Jahren
lässt er sich schließlich aus Krankheitsgründen in den vorzeitigen
Ruhestand versetzen. Schwäbisch Hall, Bad Mergentheim, Nürtingen
und endlich Stuttgart, wo er 1875 stirbt, sind seine nächsten
Stationen. Für einen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts ein
geradezu beschämender Aktionsradius.
Doch wer sich Mörikes Lebensspuren auf kleinen Ausflügen,
Spaziergängen und Wanderungen nähert und sie mit dem literarischen
Ertrag abgleicht, wird irgendwann erkennen, dass jede dieser
südwestdeutschen Reisen eine Expedition in die Zeit, nicht durch
den Raum ist. Kurz vor Sonnenaufgang in Ochsenwang den Winter
spürend oder nach Sonnenuntergang auf dem Trillberg über
Mergentheim ins Taubertal blickend - hier wie dort kann man die
Landschaft mit einem Male wie das Ziffernblatt einer Uhr lesen. Und
mit jedem Ticken verwandelt sich der nächste Schatten in Licht, der
gerade noch hell beleuchtete Hügel in ein dunkles Tal, der Mantel
aus Dunst in ein abgerissenes Regenbogenhemd. Der Reiz liegt in der
Uneindeutigkeit des Landschaftsreliefs im Schwäbischen, das sich im
Entstehen nicht festlegen wollte: weder Gebirge noch Ebene, ein
ständiges Dazwischen und Schwanken, überall Schichtungen und
Treppen, hier ein Öffnen, dort ein Verschließen - und jeder Schritt
eine nochmalige Metamorphose. Seelentopografie.
Freilich kann man sich mit Mörikes Biografie in den Händen
Petitessen erfreuen und so etwa in der Salzstadt Schwäbisch Hall
eine Hausmauer auf ihren Salzgehalt ablecken wie es der Dichter
tat. Oder neben dem Pfarrhaus, wo heute ein putziges Mörike-Museum
zu finden ist, den wütenden Mörike imaginieren, wie der sich über
dreiste Bauern erregt, die ihm wieder mal einige der besten
Salatköpfe aus dem Garten gestohlen haben. Mörike als Kauz,
natürlich, auch wenn's nicht neu ist.
Stets neu bleibt die Erfahrung eines zweiten, dritten
Augenaufschlags, während am Horizont ein rotes Band hinter einer
weißkalten Fläche lauert. Ein Blick in einen Zerrspiegel des
verdrängten Gefühls, der Erinnerung an ein fremdes Ich. An einem
Januarmorgen, irgendwo im Schwäbischen.
Tomo Pavlovic
(erschienen in Sonntag Aktuell am 1. 2. 04)