Mehr Wirtschaftswachstum? Mehr Zeit!
Der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach fordert am MöGy eine Entschleunigung unseres Alltags
„Wenn Jugendliche morgens um sechs Uhr aufstehen, ist es für sie gefühlt Mitternacht!“. Der ehemalige Professor für christliche Sozialethik Friedhelm Hengsbach weiß, wie er seinen Zuhörern am MöGy seine Analyse zum Thema Zeit anschaulich machen kann. Über 100 Schüler, Lehrer und Eltern haben sich zum Vortrag „Die Zeit gehört uns!“ aus der Reihe „Querdenken ermöglychen“ in der Mensa des Mörike-Gymnasiums eingefunden.
Wir brauchen mehr Zeit zum Feiern, für die Freunde und für die Familie, darin sind sich alle einig. Aber was ist Zeit überhaupt und warum haben wir keine, fragt der 77jährige Jesuit zu Beginn seines lebendigen und humorvollen Vortrags in die Runde. Äußerungen aus dem Publikum aufnehmend definiert er Zeit als harmonisch aufeinander abgestimmte Handlungsabläufe. Da wir aber unser Zeitempfinden immer mehr von unserer natürlichen Umwelt und unserer inneren Uhr abkoppelten, werde diese Harmonie gestört und es entstehe Zeitdruck. Eine Beschleunigung, die Hengsbach in allen Bereichen des Lebens entdeckt: in den Unternehmen, am Arbeitsplatz, in der Privatsphäre. Quelle dieses Übels sind für ihn die digitalisierten Finanzmärkte, deren Funktionsweise aus Akteuren Getriebene mache. Computergestützte Handelssysteme, so sein Beispiel, schaffen in einer Minute 100.000 Handelsaufträge, d.h. also in einer Stunde 6 Milliarden und an einem Tag 60 Milliarden. Dieses unglaubliche Tempo werde über das Prinzip des „shareholder value“ auf die Arbeitsverhältnisse übertragen und lande letztlich in den privaten Haushalten. Als Hengsbach dies mit dem Beispiel „Mama-Taxi“ unterlegt, erntet er zustimmendes Nicken vor allem bei den anwesenden Eltern. Berufstätig sein, den Haushalt führen, die Kinder von A nach B fahren, ständig verfügbar und dabei gut gelaunt zu sein, erzeugt ein Tempo im Alltag, das vor allem auf Frauen lastet. Hengsbach findet viele weitere anschauliche Beispiele für den alltäglichen Beschleunigungsdruck: Der Rhythmus in den Pflegeheimen, das G8, das Tempo in den Informationsmedien und im Film und besonders einprägsam, die ständige Erreichbarkeit über smartphones. Hier warnt Hengsbach die Generation „WhatsApp“ eindringlich: „Wer allezeit verfügbar ist, hat keine Autonomie mehr über sich selbst.“
Aber wie kommt man da raus, fragt er nach dieser Bestandsaufnahme. Neben der persönlichen Entschleunigung, die sich aber nicht jeder leisten könne, müsse man vor allem die einseitig auf Effizienz ausgerichteten Finanzmärkte regulieren. Zudem brauche es zivilgesellschaftliche Impulse. Man müsse den Mut haben, fordert Hengsbach, auf Wachstum zu verzichten und das Arbeitsleben grundlegend anders zu gestalten. Zeitsouveränität und Lebensqualität seien geeignetere Indikatoren für den gesellschaftlichen Fortschritt als das Bruttoinlandsprodukt, das beispielsweise auch die Behandlung eines „burn-out“ als wertschöpfend betrachte. Vor allem aber müsse man die vorhandene Arbeit besser verteilen. Wir alle könnten weniger arbeiten, schließt er seinen knapp einstündigen Vortrag am MöGy. Eine Forderung, die nicht bei allen Zustimmung findet. „Das ist doch in der heutigen Zeit nicht umsetzbar“, meldet sich ein Schüler, andere wiederum halten dagegen, „ich könnte mir das gut vorstellen.“ Spannende Kontroversen für den Unterricht.
G.Arnold
Der Bericht erschien am 17.3.2014 in der NWZ.