Ich erinnere noch genau meine allererste Probe für das Barbarossa-Musical. Die Noten, die Herr Pohl als erstes austeilte, waren überschrieben mit: "Nie hört ihr mir zu!" "Nanu?", schoss es mir durch den Kopf, "War Barbarossa denn Lehrer??" Zugegebenermaßen hatte ich mich zuvor nicht mit dem Inhalt des Stückes beschäftigt, und da Geschichte in der Schule nicht zu meinen Lieblingsfächern gezählt hatte, war mein Wissen über diesen berühmten Kaiser auch näherungsweise gleich Null. Diesen Stoßseufzer "Nie hört ihr mir zu!" kannte ich als Lehrerin aber nur zu gut... Herr Pohl erklärte uns zwar: "Das ist das Duett von Barbarossa und Adela.", doch – ehrlich gesagt – half mir das auch nicht weiter, wusste ich doch nicht, wer Adela war.
Das sollte sich aber im Laufe der folgenden Wochen ändern.
Wenn man in Göppingen wohnt, kommt man um die Person Friedrich Barbarossas nicht herum. Im "Storchen", dem hiesigen Stadtmuseum, gibt es eine Kopie der berühmten Büste des Kaisers sowie von Barbarossas Urkunde von 1154, in der die Stadt Göppingen (damals noch "Geppingen") erstmals erwähnt wird. Hinzu kommen noch unser "Hausberg", der Hohenstaufen, der einst Stammsitz des Staufergeschlechts war, und ganz in der Nähe das Kloster Lorch mit etlichen Gräbern dieser Familie. So ist es nur folgerichtig, wenn im Geschichtsunterricht an Göppinger Schulen der Person Barbarossas großes Gewicht beigemessen wird.
Doch lernen unsere Kinder damit Barbarossa wirklich kennen? Bleibt er nicht genauso eine theoretische Figur, ein bloßer Name wie Cäsar, Karl der Große oder Bismarck? Überall wird von "ganzheitlichem Lernen" gesprochen. Aber wie kann das geschehen, wenn nur Texte gelesen, Bilder angeschaut und darüber diskutiert wird?
Eine Möglichkeit ist unser Maientag, das traditionelle Fest zur Erinnerung an das Ende des 30jährigen Krieges, mit seinem historischen Teil des Festumzuges, in dem allen Zuschauern die Geschichte Göppingens vor Augen geführt wird von den ersten römischen Siedlungen und der Stadtgründung durch Geppo bis zur Gegenwart mit Feuerwehrfahrzeugen und einer Steel-Band. Vieles zieht - wie am letzten Wochenende – zwar farbenfroh an einem vorbei, wird aber gleich wieder vergessen. Dagegen ist Barbarossa hoch zu Ross eine so beeindruckende Erscheinung, dass sie in der Erinnerung haften bleibt.
Doch kennen wir damit Barbarossa? Seien wir ehrlich: Wissen wir über ihn mehr, als dass er angeblich einen roten Bart getragen haben soll? Und warum erinnern wir uns gerade an dieses unwichtige Detail? Ich meine, das liegt nicht nur daran, dass der Name Barbarossa "Rotbart" heißt, sondern vor allem daran, dass dieser Bart etwas sehr Menschliches ist, und der Umgang mit Menschen ist allemal eindringlicher als die Beschäftigung mit Sachen.
Was lag daher näher als - gerade passend zum Stauferjahr, zu dem das Jahr 2010 ernannt worden war – ein Musical über Barbarossa zu schreiben, in dem der große Kaiser dem Zuschauer als lebendiger Mensch gegenübertritt, und das auch noch mit Schülerinnen und Schülern einzustudieren, die sich somit hörend, sehend, singend, fühlend, agierend und tanzend mit ihm auseinandersetzen können! Kinder, die dank der großartigen Kulissen und der phantastischen Kostüme wie mit einer Zeitmaschine in die Welt des Mittelalters eintauchen können, werden Barbarossa künftig wie einen alten Bekannten in Erinnerung behalten. Das ist wahrhaft ganzheitliches Lernen!
Diese Idee hat das Musiker-Ehepaar Pohl zusammen mit dem Autor Gunnar Kunz in die Tat umgesetzt. Sie haben viele Fakten der Geschichte einfließen lassen: Barbarossas Aufstieg vom Herzog von Schwaben über den Königstitel bis hin zur Kaiserkrönung, seine erste Frau Adela (in Geschichtsbüchern Adelheid von Vohburg), von der er sich nach 6 Jahren trennte und die dann den Ministerialen Dieto von Ravensburg heiratete), seine 2. Frau Beatrix von Burgund, die er schon als Teenager heiratete und die großen Einfluss auf ihn gehabt haben soll, seinen Onkel Konrad III, der ihn zu seinem Nachfolger machte statt seines eigenen noch minderjährigen Sohns, und natürlich Barbarossas gespanntes Verhältnis zur Kirche, sahen sich doch beide – Kaiser und Papst – als Vertreter Gottes auf Erden.
Hätte Gunnar Kunz es jedoch bei diesen Fakten belassen, wäre daraus allenfalls ein langweiliges Theaterstück geworden, das wenig beeindruckt hätte. Als Künstler hat er sich daher die Freiheit genommen, noch einiges hinzu zu dichten, was in die damalige Zeit passt, wie das Streben nach wahrem Rittertum oder verschiedene Formen von Religiosität, und alles noch lebendiger werden zu lassen durch Erfinden von zwei markanten Personen, nämlich den von seinem Eifer für die Kirche geradezu besessenen Abt Burckhard und den engen Barbarossa-Freund Anselm, der an seiner Liebe zugrunde geht, weil sie stärker ist, als es sich damals unter Männern geziemt hätte – insbesondere in solch exponierter Position. Während diese beiden Personen maßgeblich am Handlungsfortgang des Musicals beteiligt sind, dienen andere erfundene Personen lediglich der Unterhaltung des Publikums, z.B. die schwatzhafte Zofe von Adela, der ebenso freche wie faule Knappe Romuald oder ein sehr lebenslustiger Mönch.
Was wäre ein Musical schließlich ohne ein bisschen Mystery und natürlich eine Lovestory? Auch diese beiden Publikums-Bedürfnisse werden in dem Stück, das Sie gleich sehen werden, bedient: Barbarossa, der auf der Suche nach dem Gral ist, hat immer wieder Erscheinungen des göttlichen Lichtes, sieht Dryaden, also Baumgeister, tanzen und hört unheimliches Rabengeschrei. Außerdem darf der Zuschauer miterleben, wie die Liebe zwischen Barbarossa und Beatrix erwacht und ungeheure Stärke gewinnt.
Aber ich sprach vorhin davon, dass Barbarossa dem Zuschauer als Mensch begegnet. Wie das? Ganz einfach dadurch, dass er keine perfekte Person ist, die selbstsicher und zielstrebig ihren Weg geht, sondern eine Persönlichkeit mit Stärken und Schwächen. Ein Mann auf der Suche nach einem selbstgesteckten Ziel, der wahren Ritterlichkeit. Er meint, dadurch dem heiligen Gral näher zu kommen, den ja nur ein wahrer Ritter verdient. Er erlebt bei anderen, wie stark die Macht der Liebe ist, erfährt, dass andere bereit sind, für die Liebe zu sterben, kann es selber aber nicht nachvollziehen, ja merkt – wie im Falle Anselms – nicht einmal, dass er geliebt wird. Er singt: "Was ist die Liebe für ein Mysterium?" und ahnt nicht, dass Liebe auch etwas mit Geben zu tun hat, dass man dem anderen Zeit schenken muss, sich ihm zuwenden und ihm zuhören soll. Daran scheitert seine 1. Ehe: Adela, die sich vernachlässigt fühlt und langweilt, hat sich längst innerlich von ihrem Mann getrennt und einen Liebhaber genommen. Ihr Mann jedoch spürt nichts von ihren Problemen, sondern merkt nur, dass seine Sorgen sie überhaupt nicht interessieren, und so ist das Duett "Nie hört ihr mir zu" eigentlich kein Gesangsstück miteinander, sondern gegeneinander.
Barbarossa kann aber auch
- fröhlich sein (wie im bunten Markttreiben),
- nachdenklich (wie in ernsten Gesprächen mit Anselm, Beatrix oder auch sich selber),
- beherrscht (wie in der Szene im Gasthaus, wo er inkognito mit anhören muss, wie er, der König, vom niederen Volk verhöhnt wird),
- und aufbrausend vor Zorn, als er sich wie eine Spielfigur fühlt, die auf vorbestimmte Weise zu handeln hat.
Sie ahnen bereits, dass die Titelrolle unseres Musicals gigantische Leistungen vom Darsteller abverlangt, die einen Laien sicher überfordert hätten. Oliver Fischer aber beherrscht dieses Spiel auf der kompletten Klaviatur menschlicher Emotionen virtuos und meistert somit seine Rolle glanzvoll und absolut überzeugend. Er rührt mich – Lachen Sie jetzt nicht! – bei jeder Aufführung wieder zu Tränen!
All diese Facetten eines großen Charakters werden aber auch noch durch die Musik Hans-Ulrich Pohls unterstrichen. So gibt es mittelalterliche Spielmusik voll ausgelassener Fröhlichkeit auf dem Markt, melancholische Balladen des nachdenklichen oder verzweifelt trauernden Barbarossa, das deprimierte, schon mehrfach erwähnte Duett "Nie hört ihr mir zu", dagegen das höchst romantische Liebeslied mit Beatrix, düstere, fast unheimliche Choräle, wenn Barbarossa den Tod seiner Soldaten beklagt oder seine große Liebe stirbt, das mystische, immer wiederkehrende Gral-Motiv und schließlich regelrechte Hard-Rock-Klänge, zu denen Barbarossa seinen Hass auf den Erwartungsdruck, die Kirche und alle, von denen er sich gegängelt fühlt, herausschreit. Wäre nicht die Musik sein Ventil – er wäre dem Abt gegenüber wohl handgreiflich geworden!
So, wie Barbarossa seine Gefühle von Freude über Liebe und Hass bis zur Verzweiflung singend Ausdruck verleiht, genauso machen es die anderen Mitwirkenden: Auch Anselm singt in seiner größten Verzweiflung, als er keinen anderen Ausweg mehr sieht als den Suizid, die junge Beatrix, hoffnungslos eingesperrt in einem Turm, singt in ihrer Einsamkeit, und selbst die Gebete des verblendeten Abtes, in denen er sich seine Morde schönredet, werden gesungen. Musik ist nun mal ein Spiegel der Seele.
Doch die schönste Musik brächte nichts, wenn sie nicht auch entsprechend dargeboten würde. Und hier kommen jetzt die Darsteller in Spiel: Wie Sie wissen, handelt es sich mit Ausnahme der Titelrolle ausnahmslos um Schülerinnen und Schüler sowie einige Lehrkräfte des Göppinger Mörike-Gymnasiums. Was sie auf die Bühne bringen, kann jeden nur in Erstaunen versetzen und verdient uneingeschränkte Bewunderung! Dabei ist der auswendig zu lernende Text noch das Geringste, obwohl auch das erst einmal neben dem laufenden Schulbetrieb geleistet werden soll. Zu nennen sind vielmehr darüber hinaus das überzeugende Handeln, die differenzierte Mimik und Gestik, ja selbst das bühnentaugliche Sprechen und das Sich-Bewegen in der ungewohnten (und manchmal wohl auch unbequemen) Kleidung. Dass dazu sogar schon Kinder aus unteren Klassen in der Lage sind, ist das Verdienst meiner regieerfahrenen Kollegin Annette Voigtländer, die die Kinder auf bewunderns-, ja geradezu beneidenswerte Weise zu motivieren weiß und die eine schier unbegrenzte Phantasie zu haben scheint, wenn es darum geht, Choreographien zu entwickeln. Aber auch Oliver Fischer alias Barbarossa sei hier gedankt, dass er, der Profi, sich nicht zu schade dafür war, mit Kindern zusammenzuarbeiten, sondern - im Gegenteil! - ihnen wertvolle Tipps gegeben hat und sie dadurch, dass er sie als Partner vollkommen ernst genommen hat, zu Höchstleistungen anspornen konnte. Man spürt, wie wichtig ihm Kinder sind. Wenn er im Finale singt: "Da ist etwas, das größer ist als Macht und Ruhm und Geld, das kostbar ist, viel kostbarer als alles auf der Welt.", ahnt man, dass er dabei vor allem an Kinder denkt, ohne die unsere Welt nicht fortbestehen könnte, und an die Liebe, ohne die die Welt schon jetzt nicht mehr existieren könnte.
Am Ende meines Vortrags sollen noch die beiden Fragen beantwortet werden: Was haben die Kinder davon, dass ihnen Barbarossa nun vertraut geworden ist? Und: Was haben Sie davon, wenn Sie sich unser Musical anschauen, außer einem hoffentlich unterhaltsamen Abend?
Ich will es Ihnen verraten: Die Kinder haben ein Gemeinschaftserlebnis gehabt. Sie sind innerlich gewachsen, weil sie gespürt haben, zu welchen Leistungen sie in der Lage sind und dass etwas Großes nur gelingen kann, wenn man zusammenarbeitet, jeder sein Bestes gibt und einer sich auf den anderen verlassen kann. Sie erleben Schule als eine große Gemeinschaft, in der die üblichen Grenzen zwischen großen und kleinen Schülern oder auch zwischen Schülern und Lehrern überwunden werden können. Und sie spüren das erhebende Gefühl eines Erfolgs.
Und Sie lernen - genauso wie unsere Schüler -, natürlich Barbarossa intensivst kennen, auch wenn nicht alles historisch belegt ist. Daneben erfahren Sie aber auch noch die zentrale Aussage, die uns, wie ich meine, durch das Musical mitgeteilt werden soll. Als am Schluss Barbarossa nämlich entdeckt, dass es unnötig ist, den Gral irgendwo auf der Welt zu suchen, da das göttliche Licht in ihm selbst steckt, da singt er (Zitat): "In allem, in jedem von uns steckt ein kleines Stück von diesem Licht. Es weckt in uns das Beste, und es schenkt uns Zuversicht." (Zitat Ende) Ich verstehe dies nicht nur als Ausdruck der Erkenntnis, zu der Barbarossa am Ende des Musicals kommt, nämlich dass Gott überall ist, auch in uns selbst, sondern vor allem als Aufforderung, in uns selber nach unseren Stärken und Fähigkeiten zu suchen. Und eine sollte dort jeder finden: Die Liebe! Die Welt braucht unsere Liebe, braucht mehr Zuwendung dem anderen gegenüber, braucht mehr Zuhören auf das, was der andere sagt, sogar auf das, was er nicht sagt. Und sie braucht die Kraft des Verzeihens, wodurch der Teufelskreis von Gewalt, Hass und Rache durchbrochen werden kann. Barbarossa führt es uns vor!
Die Gruppe "Die Prinzen" singt in einem Lied: " Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist, es wäre nur deine Schuld, wenn sie so bleibt!" Machen also auch Sie mit, die Welt zu verbessern! Ein Anfang in die richtige Richtung wäre schon gemacht, wenn keiner mehr zu klagen brauchte: "Nie hört ihr mir zu!" Hören Sie also zu: dem Partner/der Partnerin, der Kollegin/dem Kollegen, den Kindern, den älteren Menschen, dem Nächsten halt... und natürlich unserem Musical. Ich verspreche Ihnen: Es lohnt sich!
(Helga Dubbe-Wegener)