"Na zdrowie, Eduardzie, zum Wohl, Eduard!"
Tina Stroheker
Ansprache zur Installierung ‚Blauer Bänder' im Mörike-Gymnasium Göppingen, 11. Mai 2004.
Er ist's
Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen bald kommen. -
Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist's!
Dich hab' ich vernommen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Schülerinnen und Schüler,
über Eduard Mörike ist schon viel Kluges gesagt und geschrieben worden. Zu seinem 200. Geburtstag wird noch mehr hinzukommen, auch im Schulunterricht, erst recht an einem ‚Mörike-Gymnasium'. Ich möchte jetzt deshalb einfach von ein paar besonderen Erlebnissen erzählen!
Vorgestern bin ich von einer Reise durch Polen zurückgekommen. Ich habe ja über dies Land geschrieben und in den Tagen um den 1. Mai, d.h. um den offiziellen Termin des polnischen EU-Beitritts herum, war ich dort zu Lesungen eingeladen. Natürlich sprach ich mit vielen Leuten über Europa. Den 1. Mai selbst verbrachte ich in der Grenzstadt Zgorzelec (die andere Stadthälfte, jenseits der Neiße, ist das deutsche Görlitz) und trank nachmittags einen Kaffee mit einem jungen Polen, Janek, der sich als Deutschstudent entpuppte. Er meinte, auch wenn die älteren Leute eher Angst hätten vor der Union oder nörgelten - er freue sich über die Erweiterung und glaube an eine gute Zukunft. Darum finde er es so passend, daß Polen gerade im Frühling beitrete. Er lachte. Und dann setzte er eins drauf. Er fragte mich: "Haben Sie die Europafahnen auf den Straßen gesehen? Blauer Himmel, mit Sternen, und jetzt sogar noch mehr! Draußen ‚flattert jetzt das blaue Band', und so soll es bleiben!" Auf meine Frage nach dem überraschenden Mörike-Zitat aus dem Mund eines jungen Polen erzählte er, daß er einmal für ein Seminar etwas von Mörike gelesen habe. Und das Gedicht "Er ist's" habe er sich gleich gemerkt. Vielleicht läge das ja auch an einem Lied des bekannten polnischen Liedermachers Marek Grechuta, dessen Titel und Refrain heißen: "Wiosna, ach to ty", übersetzt "Frühling, ach, du bist's". Fast wörtlich und mit derselben Silbenzahl wie bei Eduard Mörike - und trotzdem wahrscheinlich Zufall. Die Zeile "Frühling, ja du bist's" jedenfalls und das ‚blaue Band'habe er nicht mehr vergessen. Ja, die Welt ist klein, und der blaue (auch der graue) Himmel ist überall derselbe ...
Ich glaube, dem Studenten Janek würde es auch hier im ‚MöGy' gefallen. Nach den Partys zum 1. Mai schon wieder Musik und ‚blaue Bänder' und Feststimmung! Und das für einen Dichter, die man in unserem Nachbarland hoch schätzt.
Natürlich könnte man jetzt auch Bedenken äußern: Etwas wie Fahnen werden installiert und eine ‚Big Band' spielt und - und das gerade für Eduard Mörike, den scheuen, stillen, empfindsamen, kränkelnden? Überhaupt, ein ‚Mörike-Gymnasium', dieser offizielle Namen - und dazu ein Dichter, der nach bürgerlichen Maßstäben eher ein ‚untüchtiger' Mensch war, der Pfarrer hat sein sollen (und es mit Ach und Krach bis zu einer Frühpensionierung auch gewesen ist ...) ,später Literaturlehrer (mit wenigen Wochenstunden, und die waren ihm auch zu viel), der aber eigentlich am liebsten für sich blieb und schrieb? Ganz recht so! ‚Blaue Bänder' und Fahnen sollen durch die Lüfte flattern und Drums und Trompeten sollen aufspielen für meinen großartigen Kollegen!
Die ‚blauen Bänder' sollen flattern für einen Menschen, der uns zeigt, daß es jenseits wohlorganisierter und zupackender ‚Lebensklugheit' Leistungen und Weisen zu leben gibt, die ihre eigene Kraft haben. Und was für Kraft hatte dieser Eduard! Auf Abbildungen sieht er als Student weich und zart aus, als älterer Mann müde. Aber wie viel für Kraft hatte er! Er hat aller Melancholie und allen Mühen und Müdigkeiten zum Trotz ein unsterbliches literarisches Werk geschaffen. Seine berühmten Gedichte (er hat auch weniger tolle geschrieben) haben einen eigenen Sound, sie sind mit die musikalischsten Gedichte in der deutschen Literatur. Kein Wunder, daß so viele davon vertont worden sind. Und neben den Gedichten erinnere ich an den geheimnisvollen, leidenschaftlichen Roman "Maler Nolten", die schmerzlich-schöne Novelle über "Mozart auf der Reise nach Prag", in der es um Kunst und Leben geht und ums Sterben am Ende - und an das charmante, übrigens sehr raffiniert konstruierte "Stuttgarter Hutzelmännlein" ...
Noch einmal Polen: Vor ein paar Jahren habe ich hier in der Nähe, in Ochsenwang, dem Dorf, wo Mörike als junger Pfarrverweser einige seiner schönsten Texte geschrieben hat, mit deutschen und polnischen Schriftstellern Mörike-Gedichte übersetzt. (U.a. übertrug ein Schriftsteller aus Breslau, das heute Wroclaw heißt, "Er ist's".) Wir arbeiteten in dem Haus, in dem Mörike gewohnt hat und wo heute ein kleines Museum ist, und zur Erholung gingen wir auch hinaus in die Landschaft. Am dritten Tag las uns meine polnische Kollegin Marta Fox (sie schreibt Geschichten für Jugendliche und Lyrik) einen Gedichtentwurf vor. Der Titel des polnischen Originals ist deutsch, er heißt "Lieber Eduard Mörike". Das Gedicht, das auch eine Anspielung an Eduards große unglückliche Liebe ‚Peregrina' enthält, lautet übersetzt so:
Lieber Eduard Mörike
Lieber Eduard Mörike
uns trennt über ein Jahrhundert Alltäglichkeit
hundertmal länger als der Weg von Ihrem
Haus zum Krater des erloschenen Vulkans
den ich heute besucht habe
im Wettlauf mit Sonne und Wind
uns trennt über ein Jahrhundert Einsamkeit
und doch warte ich wie Sie
auf den Frühling und freue mich daß ich Sie
entdeckt habe inmitten all der falschen Propheten
und daß ich das alte Porträt anschauen kann
und die Beständigkeit des Flüchtigen spüre
Lieber Eduard Mörike
du bist mein Bruder in der Metapher
darum trittst du in mein Leben ein
wie Peregrina in deine Gedichte
die du geschrieben hast um dem eine Chance
zu geben was unmöglich ist
Ist es nicht schön, wie die polnische Schriftstellerin am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts den deutschen Dichter Eduard Mörike aus dem neunzehnten erst mit "Sie", dann mit "Du" und "Bruder" anredet? Ja, die Welt ist klein, und der Himmel ist überall derselbe. Und wie die Musik und die Kunst macht uns auch die Literatur ein Angebot: Sie kann Menschen verbinden, über Einsamkeiten und Grenzen, ja über Jahrhunderte hinweg. Darum schlagen wir doch die Bücher auf und lesen - nicht, weil Schulstunden irgendwie gefüllt und Noten gegeben werden müssen! Liebe Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler in diesem Mörike-Gymnasium - wir wollen das nie vergessen.
Eduard selbst hat es natürlich viel besser gesagt: "Die Poeten müssen die Herzen umwenden können wie Handschuhe in einem Nu." Er selbst konnte es, und wie! Hätte ich jetzt ein Glas Sekt (es dürfte auch polnischer Wodka sein) , würde ich es auf Eduard Mörike erheben - na zdrowie, Eduardzie, zum Wohl, Eduard!
© Tina Stroheker